Trojaburg
 
 

Kurt Eggers: Die Kriegerische Revolution

„Ihr Einsamen von heute, Ihr Ausscheidenden,
ihr sollt einst ein Volk sein:
aus euch, die ihr euch selber auswählet,
soll ein auserwähltes Volk erwachsen: –
und aus ihm der Übermensch!“

Nietzsche

 

Abschied vom Bürgertum

Es hat einmal eine Zeit gegeben – das wollen wir zum Abschied noch einmal aussprechen, weil wir uns unserer Vorväter nicht zu schämen haben –, zu der das Wort Bürger einen geradezu revolutionären Klang hatte. Bürger!

Darin lag aller Trotz freier Männer, die sich den Teufel um Adel und Geistlichkeit, um Vorrechte der Fürsten, um Dogmen der Engstirnigkeit kümmerten! Die entschlossen ihren eigenen Weg gingen und die Menschen ihrer Umwelt werteten nach dem, was sie in Wirklichkeit wert waren. Und die Städte, die sich diese Bürger bauten, waren ragende Festungen der Freiheit, an denen so mancher Fehdezug beutehungriger Fürsten und so mancher listige Anschlag machtgieriger Pfaffen zuschanden wurde. Weil aufrechte Männer in den Städten lebten, die die Ehre höher achteten als den geruhsamen Wandel, konnte eine Blüte der Kultur beginnen, vor deren Größe wir noch heute ehrfürchtig bewundernd stehen.

Nicht nur die Burgen Sickingens, auch die freien Städte in ihrer Vielzahl waren „Herbergen der Gerechtigkeit“, die Männern der Wissenschaft und der Forschung, die Helden der Wahrheit, die Ketzern und Sehnsüchtigen, Erfindern und von der Qual des Schöpfertums Vereinsamten Nahrung und Obdach, Frieden und Ehrenschutz und – wenn es nötig war – auch Beistand mit der Waffe zu geben vermochten.

Denken wir an einen Mann wie den Willibald Pirckheimer zu Nürnberg, so haben wir einen Bürger vor Augen, wie er tüchtiger, ehrlicher, gelehrter und lebenskundiger kaum gedacht werden kann.

Von solchen Bürgern wurden einmal die Fackeln der Freiheit in die Nacht der Dunkelmännerei getragen!

Oder denken wir an die Hanse!

Da treffen wir zum erstenmal eine ganze Mannschaft von wagemutigen Bürgern, von Kerlen, die gleichmäßig Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatten.

Kaum war Lübeck die Hauptstadt der Hanse geworden, begann eine unerhört zielstrebige, kluge und erfolgreiche Ostpolitik, die nicht von Krämern, sondern von in des Wortes ganzer Tiefe königlichen Kaufleuten geführt wurde. Wisby, Riga, Dorpat: die Städtegründungen dieser tapferen, handelsherrlichen Bürger können sich neben den Gründungen größter Kaiser und Könige der Welt sehen lassen.

Die bürgerlichen Stadtverfassungen zeugten von einer wirklichen Ordnung. Von einer Einordnung des einzelnen in die Gemeinschaft und von einer Wertordnung, die den einzelnen und die Genossenschaft ihrem wahren Werte gemäß einstufte. Das aber – war einmal!

Die Zeit des freien, aufrechten, im besten Sinne herrischen Bürgers ist längst dahin.

Der Dreißigjährige Krieg schon machte dem Bürgertum ein Ende oder war zum mindesten der Anfang vom Ende.

Das hatte sicher seinen Hauptgrund darin, daß an Stelle des Bürgers der „Pfeffersack“ getreten war, den der Besitz zum Genuß und der Genuß zur Verweichlichung, die Verweichlichung aber zu Willkür und Gleichgültigkeit verführt hatten. Den Pfeffersack haßten die umstürzlerischen Bauern, wie ihn die leidenschaftlichen Ritter vom Schlage eines Hutten hassen mußten. Sicher aber war auch der aufrechte Bürger den Dunkelmännern, die die Gegenreformation betrieben, verhaßt. Denn die charakterlich nicht angekränkelten Kreise des Bürgertums waren fanatische Helfer der Papisten und ebenso leidenschaftliche Anhänger der Reformation gewesen. Nicht allein aus Liebe zum lutherischen Christentum, sondern vielmehr aus politischer Erkenntnis, daß durch Luther eine Gelegenheit gegeben war, dem Zwange des volks- und reichsfeindlichen Kirchenregiments zu entgehen.

Der Absolutismus des Fürstentums sorgte dafür, daß das Bürgertum seine politische Macht einbüßte, und die absolutistischen Fürsten wurden durch ihre Beichtväter darin bestärkt, den „rebellischen“ Städten geistig den Garaus zu machen. Damit aber verloren die Städte ihren dokumentarischen Kulturwillen. Niemand dachte mehr daran, die stolzen Rathäuser – Zeugen eines wunderbaren Selbstbewußtseins – zu bauen. Niemand baute aber auch mehr die aufragenden Dome und Kirchen, die ja weniger Ausdruck frommer, demütiger Christgläubigkeit als vielmehr Zeugnis des starken, prachtliebenden Gemeinschaftswillens waren.

Wohl kämpfte der Bürger noch gegen Pfaffen und Fürsten um sein Recht, wohl pochte er noch auf seine alte Freiheit und erinnerte an seine Verdienste: aber er war in die Verteidigung gedrängt!

In der Französischen Revolution konnte das Bürgertum für kurze Zeit einen revolutionären Auftrieb erhalten: der „dritte Stand“ setzte sich über Adel und Geistlichkeit, und es war eine Ehre, den Titel „Bürger“ zu führen. Das Vorrecht des Adels war gebrochen, nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa.

Der Bürger war stolz und dankbar, daß er im Heere als Offizier dienen durfte, daß er Beamtenstellungen einnehmen konnte. Im übrigen aber prunkte er mit seiner Bildung, von der er wähnte, daß sie ihn „frei“ machte, und fühlte sich geborgen, wenn er einen Schutzwall des Besitzes vor sich auftürmen konnte.

Aus der Freiheit des Bürgertums von ehedem war der Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts geworden!

Und dieser Liberalismus hatte den seelischen Kompaß der wahren Freiheit verloren: den Instinkt!

Das instinktlose Bürgertum bot den übelsten Anblick des Verfalls: Aufgeblasenheit und Anspruch hier, Feigheit, Fassungslosigkeit, Liebedienerei dort!

Der Salon wurde zum Mittelpunkt der „Bildung“. Die Bildung aber war ein literarisches Geschwätz geworden. Juden und „charmante“ Jüdinnen heuchelten Weltschmerz. Das Vaterland wurde der Bürgerseele zu klein. Sie sah nun die Welt als Heimat und die „Menschheit“ als Bruderbund an. Das instinktlose Bürgertum ging freudig auf in der Freimaurerei und verlachte jeden aufrechten Mann, der seinen Instinkt behalten hatte und den elenden Schwindel der Menschheitsbeglückung erkannte, als „rückständig“.

„Modern“ sein, hieß, auf jeden Seelenfänger hineinzufallen, um jeden Preis alles mitzumachen, überall dabei zu sein, mitreden zu können, und wie diese bürgerlichen Redensarten alle heißen mögen.

Die entwurzelten Bürger suchten sich – da sie keinen wirklichen Boden mehr unter den Füßen hatten – einen goldenen Boden.

Und um diesen sehr undankbaren, sehr wandelbaren, sehr beweglichen Boden zu erhalten, wollten sie ihre Ruhe haben, nichts weiter!

*

 

Unter einem der unpreußischsten Könige Preußens, der sogar drauf und dran war, ultramontanen Einflüssen weitgehend Geltung zu verschaffen, wurde einmal in der Angst vor tumultuarischen Auseinandersetzungen mit der „Straße“ das Wort geprägt:

„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“

Diese Ruhe sollte den Verzicht auf jede politische Willensbildung, ja, auf jede eigene politische Meinung enthalten, denn der betreffende König hatte eine gefährliche Neigung zu „mittelalterlicher Romantik“, wie Bismarck dessen absolutistische Wahnvorstellungen höflich nannte.

Das in sich kranke Bürgertum ging freiwillig einen Schritt weiter: es sah in der Ruhe sein erstes Bürgerrecht! Der Staat hatte dafür zu sorgen, daß alles schön ruhig blieb, damit der Erwerb ungestört vonstatten gehen konnte. Je weniger der Staat Kriege, große Bauvorhaben, Rüstungen, soziale Reformen und dergleichen durchführte, was Geld kostete – und Geld wiederum konnte vornehmlich nur aus Steuern kommen, Steuern aber mußten der freien Erwerbstätigkeit insofern unangenehm werden, als sie von den daraus gewonnenen Einkünften bestimmte Prozentsätze mit Beschlag belegten und sie damit dem Verfügungsrecht des besitzenden Bürgers entzogen –, desto gewogener war der Bürger diesem Staat! So kam es, daß das Bürgertum sich allmählich in jene charakterlosen sogenannten „Mittelparteien“ verzog, die weder Fisch noch Fleisch waren und mit den jeweiligen Regierungen muntere Handelsgeschäfte „tätigten“, wie es in der verballhornisierten und verjudeten Krämersprache hieß. Diese Parteien – deren Krönung eine „Wirtschaftspartei“ war, die die Lösung der deutschen und darüber hinaus sogar der europäischen Frage, wenn nicht sogar der Weltfrage in der „Wirtschaft“ sehen wollte – leben als Zerrbild des Bürgertums in unserer Erinnerung.

Und was ist aus diesem Bürgertum geworden?

„Du Bürger“ ist ein Schimpfwort von besonderer Schwere.

*

 

Es ist hier nicht der Ort, zu sagen, daß es auch unter den spießigsten Bürgern noch sogenannte „anständige Menschen“ gibt. Ebensowenig ist hier der Frage nachzugehen, warum man nicht dieses dekadente Bürgertum mit Stumpf und Stiel ausrottet! (Vielleicht nur deshalb, weil die Bürger noch gute Söhne und Töchter haben können!)

Es geht hier lediglich darum, mit aller Deutlichkeit festzustellen, daß die Zeit des Bürgertums abgelaufen ist, auch wenn es sich noch so geschickt zu tarnen weiß. Auch wenn es mit devoten Phrasen sich – natürlich nur äußerlich – gleichschaltet, um in dieser Eigenschaft auf die „wilden und unreifen revolutionären Elemente“ besänftigend und ausgleichend einzuwirken!

Und hier muß nun zuerst einmal ein Trennungsstrich gezogen werden!

Deutlich, scharf und brutal.

Das Bürgertum wurde instinktlos und beging den Fehler, Charakterlosigkeit mit Lebensklugheit zu verwechseln. Es suchte den Erfolg des Tages und endete zwangsläufig in Bestechlichkeit aller Art. Daran mußte es scheitern.

In der entscheidenden Stunde hat es spüren müssen, daß weder Bildung noch Besitz, weder Religion noch „Moral“ frei machen, sondern allein die aus Willen, Charakter und Erkenntnis geborene Tat!

Aber gerade dieser Tat war das dekadente Bürgertum immer peinlichst aus dem Wege gegangen.

„Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!“

Ein typisch bürgerliches Wort, ein Wort aus der Geborgenheit, aus der heraus es sich billig grinsen läßt, wenn andere die gefährliche Tat auf sich nehmen, nach deren Ausgang der Bürger als Erbe – des einen oder des anderen, eben dessen, der erschlagen wird – aufzutreten pflegte!

„Nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl!“

Mit einem solchen Denken hätte es nie eine Hanse gegeben. Ein Rentnerdasein aber läßt sich bequem damit leben.

„Mit den Wölfen muß man heulen!“

Ein bezeichnendes Bild der Stupidität des sterbenden Bürgertums. Nun, war der Wolf schwarz, dann beugte man die Knie und war fromm. War aber der Wolf rot, dann tat man sich etwas auf seine „Freigeisterei“ zugute!

Frieden wollte der Bürger haben, Frieden um jeden Preis! Daß er den Preis schließlich selber zahlen mußte, machte ihm kein Kopfzerbrechen, denn er hatte sich dem Worte: „Sorget nicht“ verschrieben, und dieses Wort verbot ein für allemal das Denken an morgen, an übermorgen, an die Zukunft. Seine „Lebensklugheit“ zwang den Bürger zum Frieden mit dem Zustand, auch dem unwürdigsten, in der Hoffnung, auch hier noch ein Geschäft machen zu können.

So schwor denn auch der Bürger jeden Eid, gleichgültig ob auf den lieben Gott oder auf seinen großen Gegenspieler! Und zum Schluß war er noch beleidigt, daß ihm keiner mehr über den Weg traute!

Wir nehmen Abschied vom Bürgertum. Aber gerade darum halten wir ihm eine Leichenrede, die nicht unter dem versöhnlichen und verlogenen Worte steht, daß man über Gestorbene nur Gutes sagen darf!

Gerade wir jungen Deutschen, die von anständigen, ehrlichen, bürgerlichen Eltern stammen, haben die Pflicht, in aller Eindeutigkeit zu sagen, warum uns unser väterliches Haus zu eng wurde.

*

 

Wir sind alle einmal in den Krieg des Lebens gezogen, um neue Wege zu finden, die zur Freiheit führen sollten, nicht zur Versorgung.

Wir haben uns frei machen müssen zunächst von den guten Meinungen all derer, die uns zu einem „gesicherten Dasein“ verhelfen wollten.

Und das Bürgertum hat sich in jeder Beziehung gesichert. Es lebte geradezu in Versicherungen. Im Himmel und auf Erden gab es keinen nur möglichen Zufall mehr, auf den hin nicht eine Versicherung abgeschlossen werden konnte.

Der Säugling wurde schon vermittels der Taufe vor etwa bevorstehenden peinlichen Überraschungen gesichert.

So recht glaubten selbst die Paten, die doch eine Art Eid über dem Taufbecken abzulegen hatten, nicht an die Wirksamkeit dieser Versicherung.

Aber sie nahmen den einen Trost mit nach Haus, daß sie gewiß auch nicht schaden könnte!

Im Himmel und auf Erden versichert!

Ein köstlicher Gedanke!

Und man schalt uns junge, aufrührerische, unruhige und sehnsüchtige Menschen undankbar, daß wir darüber lachten und – unseres Weges gingen!

Wir hatten keine Ehrfurcht vor dem Pensionsdenken des Bürgertums. Das hat man uns verargt.

Dieses Bürgertum hätte in alle Ewigkeiten weiter vegetieren können, ohne zu merken, daß es geistig und seelisch längst gestorben war! Es „lebte“ wie ein überalterter Baum, der, inwendig schon ausgehöhlt und wurmstichig, sich und die Umwelt dadurch täuscht, daß er hier und dort noch einige Blätter zu treiben vermag, aber von jedem Sturm umgebrochen werden kann.

So lebte das Bürgertum in der Angst vor dem Sturm!

Nur keine Veränderung!

Es fühlte zwar den Boden unter den Füßen wanken, darum hatte es auch eine abergläubische Furcht vor jeder politischen und wirtschaftlichen, vor jeder seelischen und geistigen Gewichtsverlagerung.

Argwöhnisch beobachtete es das Anschwellen, das mit lawinenartiger Geschwindigkeit Näherkommen der sozialistischen Arbeiterbewegung.

Der Arbeiter gefährdete die Ruhe und Sicherheit! Also war er ein Feind des Bürgertums!

Also mußte der Staat mit allen Mitteln gegen diesen Feind vorgehen!

Kaiser Wilhelm II. verstieg sich sogar zu einem Ausspruch, daß die Soldaten auf Eltern und Geschwister notfalls zu schießen hätten.

Als „staatserhaltend“ galt nun alles, was sich der sozialistischen Bewegung entgegenstellen konnte, was bereit war, sich für „Thron und Altar“, diese Fundamente des bürgerlichen Ruhestaates, einzusetzen.

 

Das Volk braucht „Religion“, so hörte man es in den Kreisen des um seine Sicherheit besorgten Bürgertums rufen. Der Bürger selber hatte keine Religion mehr, er war zu „aufgeklärt“, zu „gebildet“; er witzelte in seinen Salons und dachte selber gar nicht daran, in die Kirche zu gehen oder gar das Abendmahl zu nehmen.

Aber dem „Volke“ mußte die Religion erhalten bleiben. Und „Volk“ war eben alles, was nicht zum Bürgertum, zu den „gehobenen Schichten“ gehörte. Dieses Volk – man sprach das Wort bereits verächtlich und geringschätzig aus – hatte fromm zu sein, um desto besser zu parieren.

„Seid untertan der Obrigkeit.“ Ein schöner Satz, hinter dem sich jeder faule Monarch verstecken konnte.

Ein Satz, von dem er sein albernes „Gottesgnadentum“ ableiten durfte. Und die Kirche half ihm bei diesem Betrug; darum war sie „staatserhaltend“, darum bekam sie ihre großen Zuschüsse und Sonderrechte.

Daß darüber der Arbeiter zum Proletarier wurde, „interessierte“ den Bürger nicht mehr.

Der schlimmste Vorwurf, den der Bürger einem Widersacher machen konnte, war, daß er ihn einen „Ruhestörer“ nannte. Die Ruhe kam gewissermaßen unter polizeilichen Schutz. Und „Ruhestörer“ waren die politischen Revolutionäre, die durchaus keine „Vernunft“ annehmen

wollten.

Vernunft wurde auch ein leeres Schlagwort des Bürgertums. „Vernünftig“ war einer, der sich „nach der Decke streckte“, der „sich die Hörner abgelaufen hatte“, kurz, einer, der die Waffen seiner Jugend, seines Mutes, seines Willens, seines Geistes vor der Konjunktur des Alltags gestreckt hatte, der zu Kreuze gekrochen war, um „pensionsberechtigt“ zu werden.

Der politische Revolutionär war „unmöglich“, er war ein Außenseiter der Gesellschaft, den man mied wie einen Pestkranken. Am besten war es schon, man sperrte ihn gleich ins Irrenhaus, da brauchte sich die „Familie“ wenigstens nicht zu schämen. Denn die Geisteskrankheit war ja im dekadenten Bürgertum eine interessante „Mode“.

Anders behandelte man die kleinen Revoluzzer des Salons, die Bohèmemenschen, die Kulturzigeuner! Sie waren ja so „interessant“, so aufregend anders als die anderen. Die verhätschelte man, die reichte man von Familie zu Familie, damit sie dort perverse „Ideen“ an den Mann, an die Frau, an das Kind bringen konnten.

Oder wenn gar ein „edler Pole“ auftauchte, der eine politische Idee verfocht, die dem Anschein nach nicht die geringste Gefährdung des Bürgertums brachte, dann taute der Bürger geradezu auf, dann ließ er sich zu Tränen rühren, dann öffnete er sogar seine Brieftasche!

Bismarck hatte unter diesem rührseligen Bürgerpack viel zu leiden; seine Maßnahmen gegen die immer frecher und aufrührerischer werdenden Polen im Osten des Reiches wurden nicht zuletzt gerade durch die „Politik des Salons“ häufig ernsthaft gefährdet.

O ja, das Bürgertum war „wohltätig“; wenn es galt, irgendwo eine der geschmacklosen neuen Kirchen zu bauen, dann war es zur Stelle. Es stiftete auch gern einen Beitrag für irgendein Waisenhaus, oder wenn es galt, ein Idiotenheim für die Erbkranken, die zum größten Teil aus den Kreisen des degenerierten Besitzbürgertums stammten, zu bauen, verschloß es sich keineswegs, diesen „Ärmsten der Armen“ liebreich beizustehen. Es war ja so edel, Gutes zu tun.

Aber wenn einmal die Arbeiterschaft sich rührte, dann rief man nach der Polizei. Der Arbeiter sollte sich doch gefälligst bescheiden und nicht so anspruchsvoll sein! Warum ging er nicht zur Kirche, dort wurde doch gepredigt, daß alle Schätze der Erde ein Nichts sind vor den Wonnen des Paradieses!

Ja, die Religion! Darum stiftete der Bürger lieber Geld für die Volksmission und für die Heilsarmee oder für das Asyl für die Obdachlosen!

Wir haben diese Parteien und Gruppen zur Genüge erlebt, die in ihren Programmen verkündeten: Sozial? – Ja. Sozialistisch? – Nein.

Und die ernsthaft glaubten, damit das berühmte Ei des Kolumbus für die Neuzeit noch einmal aufgestellt zu haben.

Wir wollen uns an dieses Versagen des Bürgertums unserer Tage erinnern, wenn wir den endgültigen Trennungsstrich zwischen gestern und heute ziehen, schon deshalb, weil die größte Gefahr für unser Reich in einer seelischen und geistigen Wiederverbürgerung liegen könnte!

 

 

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