Trojaburg
 
 
Parcival auf der Suche nach dem Gral
Gralsburg Monsalvasche

Parsifal‘s Gebet, ein Ostermärchen


Parsifal‘s Gebet

    Es war der Abend jenes Karfreitags, an welchem Parsifal in der Gralsburg ankam und durch die Berührung mit dem heiligen Speere Amfortas‘ furchtbare Wunde heilte. Der letzte Knappe hatte mit tiefer Verneigung das Schlafgemach verlassen. Als König befand sich Parsifal zum ersten Mal allein. Müde war er sehr; wohl ebenso müde wie an jenem Weihnachtsabend, von welchem ich dir erzählte; denn was hatte sich alles im Verlaufe dieses einen kurzen Tages zugetragen! Doch es war eine andere Müdigkeit; damals sah es so leer in seinem Herzen aus, als ob die körperliche Anstrengung auch seine Seele ausgesogen hätte; trübe, matt, entmutigt hatte er sich neben seinem Pferde hingestreckt; jetzt waren Herz und Seele übervoll; sie fühlten sich ohnmächtig, sie zu fassen, diese Flut von übermächtigen Eindrücken. Ihm schien es, als sei sein ganzes vorangegangenes Leben nur die Vorbereitung zu diesem einen Tage gewesen, als flösse der  kostbare Segen aus seinem Herzen über und durchströme seinen ganzen Körper; er glaubte sich zu einer Riesengestalt umgewandelt und zugleich so himmelstrebend leicht, als solle er sich bald auf Schwingen von der Erde erheben! Er betastete sich am ganzen Körper und griff sich mit beiden Händen nach dem Kopfe. Ja! er war es doch, Parsifal, der schlichte, schwache Mensch, der Tor! Gottes Gnade allein hatte ihn groß gemacht; mächtig drängte sich ihm dieses Bewußtsein auf; überwältigt sank er an seinem königlichen Bette in die Kniee.
    Sind des Menschen Empfindungen und Gedanken auf Gott gerichtet, so reden wir von „Gebet“. Oftmals aber geschieht es, daß, wenn einer mit tiefer Inbrunst sich ins Gebet versenkt, Gott die Gedanken und Empfindungen erfaßt und sie dorthin lenkt, wohin sie zu lenken es seiner Weisheit gefällt. So mag es Parsifal wohl jetzt ergangen sein.
    Als hätte er durch die Augen eines anderen geschaut, so sah er sich selber am frühen Morgen dieses Tages; neben ihm lag der vor wenigen Augenblicken verschiedene Allat, und in einiger Entfernung, über dichtbewaldete Abhänge hinweg, blitzten die Zinnen der Gralsburg in den ersten Strahlen der soeben über den Horizont aufsteigenden Sonne. Noch bei Sternenschein war er, treu seiner Gepflogenheit, von der Nachtraststätte aufgebrochen. Eine eigentümliche Erregung schien sich Allats, seines treuen Rosses, bemächtigt zu haben. Kaum vermochte Parsifal es zu bändigen, so stürzte es bergauf, bergab; dabei verschmähte es sowohl Futter wie Trank, und wenn Parsifal seinen Willen durchsetzen und es mit Gewalt zurückhalten wollte, wieherte es mit so eigentümlicher, herzergreifender Stimme, daß er jenes Traumes gedenken mußte, in welchem Allat zu ihm geredet hatte, worauf er, ehrfurchtsscheu, die Zügel wieder hängen ließ. So kam es, daß sie noch vor Sonnenaufgang einen weiten Weg zurückgelegt hatten. Und da, plötzlich, nach Überwindung eines langen und furchtbar steilen Abhanges, den Allat in ununterbrochenem Trabe erklommen hatte, da lag die jahrelang gesuchte, die heilige Burg vor ihnen! Parsifal war gleich vom Pferde gesprungen; er kniete in dem frischen Tau der Wiese nieder und, die Hände zum Himmel emporgehoben, die Augen aber unverwandt auf die Gralsburg gerichtet, dankte er Gott aus vollem Herzen. Kaum konnte er sich von dem so lange, so heiß ersehnten Anblick trennen; dann aber sprang er frohlockend auf die Füße und wandte sich um, Allat zu rufen. Aber wehe! was sah er? Das treue Tier lag auf dem Boden ausgestreckt und keuchte und kämpfte um Atem. Schnell eilte er hinzu, hob ihm den Sattel ab und löste den Zaum... Doch schon verschied der gute, liebe Allat mit einem letzten, schier menschlichen Seufzer. Parsifal faßte den Kopf des Pferdes in seinen Armen, hob ihn in die Höhe und küßte ihn und weinte, und mit der Verzweiflung eines Kindes rief er dem Genossen seiner schweren Wanderjahre immer wieder zu: „Allat, Allat! stirb nicht, ach, stirb nicht! Verlass‘ mich nicht! Du bist mein bester, mein treuester Freund; aus der Burg dort stießen mich die Menschen hinaus, du aber hast mich wieder hingeführt!   M u ß   einer von uns dem Tode zum Opfer fallen, so sei ich es, nicht du! Höre mich, Allat, erhebe dich! ich binde den heiligen Speer an dem Sattel fest, du trägst ihn hin; ich aber lege mich hier nieder und sterbe...“ Da aber gewahrte er in dem Auge des edlen Rosses den Blick des Todes, jenen selben Blick, der ihn schon einmal so gewaltig ergriffen hatte. Nicht weit von dieser Stelle hatte Parsifal, als er das erste Mal das Gralsgebiet betrat, wo alle Tiere dem Menschen heilig sind, den Schwan erlegt. Als er dessen gedachte und nun wieder, unwillkürlich, den gebrochenen Blick des Allat betrachtete, da ging in Parsifals Bewußtsein eine jener Umwälzungen vor sich, aus welcher ein neuer Mensch entsteht, dem die ganze Welt fortan in einem anderen Lichte erscheint. Daß sein Eintritt in das heiligste Gebiet des Friedens und der allgemeinen Liebe immer mit dem Tode eines unschuldigen Tieres erkauft werden mußte,...  er empfand, hier bekunde sich nicht Zufall, vielmehr walte eine unsichtbare Macht; sein eigenes Dasein erschien ihm beinahe als Sünde; ihm war es, als trüge er die Last einer Schuld, die weit über sein enges Leben hinausreiche, als sei aller Schmerz und aller Tod sein Werk. Mit bestimmender Gewalt empfand er, kein Leiden auf der Welt gebe es, für das er nicht mit verantwortlich sei. Tief gebeugt stand er auf und langsam schritt er den Berg hinab, in den Wald.
    Parsifal war ein ernster Mensch. Er verstand es nicht, mit dem einen Auge zu weinen und mit dem anderen zu lachen. Darum freute ihn der strahlende Morgen nicht mehr. Seine schwarze Rüstung erschien ihm jetzt wie ein Trauergewand für den toten Allat. In seinen Kummer versenkt, schritt er dahin; er gedachte nicht einmal mehr der Gralsburg. So teuer hatte er das Glück erkaufen müssen!
    Daß Keiner seine Tränen sähe, schloß er das Visier.
    Aus diesem düsteren Nachsinnen hatte ihn des Gurnemanzen Stimme geweckt. Doch nicht auf einmal; so verwirrt war sein Sinn, daß er zuerst nicht wußte, wo er stand; auch dünkte ihm der fromme Ritter mächtig gealtert und alles um ihn herum seit seinem früheren Aufenthalt auf Grals Gebiet so verändert, daß er sich fragte, ob er nicht träume, oder ob er selber, tief umgewandelt, das Altbekannte nicht mehr zu erkennen vermöge. Als aber Gurnemanz ihm kündete, heute sei der Tag, an dem der Heiland starb, da kehrte ihm das volle Bewußtsein wieder. Was der Tod bedeute, das hatte er soeben wieder an einem armen Tiere gesehen; nun erschaute er über die Berge und die Wasser und über die Jahrhunderte hinweg den gebrochenen Blick von Gottes eigenem Sohne, den die Menschen an das Kreuz geschlagen! Ach, welchen Blick! Da wurde er sich seines hohen Lebensamtes wieder bewußt. Den Lanzenspeer, der das heiligste Blut vergossen, er hielt ihn in der Hand: durch Gottes Gnade durfte er ihn halten. Voll Demut und Dankbarkeit kniete er vor der geweihten Waffe nieder; sollte er nicht hoffen, daß, wenn selbst dieser verbrecherische Stahl durch die Berührung des göttlichen Blutes auf ewig geheiligt war, auch sein sündenbelastetes Haupt durch die Berührung mit jenem Blicke des Gekreuzigten Erlösung finden werde? Er betete nicht den Speer an, das glaube nicht; aber im Staube hingestreckt, schaute er hinauf zu dessen Spitze; er sah den Heiland am Holze hängen und das heilige Blut sah er an der Lanze herunterfließen...  Daß er diese gerade am Karfreitag, am Gedenktage ihrer entsetzlichen Tat, in die Gralsburg zurückführen durfte, das war gewißlich auch kein Zufall. Überall waltete jene unsichtbare Macht. Beruhigt, gestärkt, nunmehr zu voller Mannesreife gelangt, mit einem Glauben, fester als Felsen es sind, war er aufgestanden und hatte er dem edlen Gurnemanz die Hand gereicht.
    Und nun sah er auch alles wieder, was in so schneller Folge geschehen war: die Fußwaschung, die Salbung, die Erfüllung seines ersten königlich-priesterlichen Amtes an der unglücklichen Kundry, den Eintritt in die Gralsburg, die Heilung des Amfortas...  Einsam an seinem Bette knieend, fragte er sich jetzt, wie er das alles wohl vollbracht haben mochte? Er, den alle Welt den Toren nannte? Nicht einmal, daß Könige gesalbt werden, hatte er gewußt! Eins war dem anderen gefolgt, als wüchse es daraus hervor, wie der Stamm aus seiner Wurzel; er hatte ebensowenig Bewußtsein gehabt von dem, was folgen werde, wie der Stamm von dem Blatte, das er zu tragen bestimmt ist; ebenso unfehlbar jedoch war stets das Richtige geschehen. Nie, dessen entsann er sich bestimmt, waren ihm Zweifel gekommen, wie er handeln sollte, noch hatte er es sich hin und her überlegt; mit sicherer Bestimmtheit und mit dem Bewußtsein einer Notwendigkeit, die kein weiteres Denken zuließ, war er von einer Tat zur nächsten geschritten. Und nun war das Werk vollbracht!
    Tief neigte er sein Haupt im Dankgebete.
    Da hörte er wieder den herrlichen Gesang im Gralstempel. Warum war er heute so viel schöner noch als das erste Mal? so viel ergreifender? Jetzt verstand er, daß das von den Leiden der Ritterschaft herrührte, je größer ihre Schmerzen, desto schöner ihr Gesang; Gottes Güte wurde hierdurch auch in den Leiden, die seine Allweisheit über die Menschen verhängt, deutlich wahrnehmbar. Heute war freilich den Rittern das höchste Heil gekommen; doch gerade dieser Gesang ließ Parsifal ahnend empfinden, was sein Verstand nicht zu fassen vermochte: daß des Menschen Glück des selben Wesens wie sein Leid sei; die Wonne der Erlösung war nicht ein Aufheben der Schmerzen, sondern ihre Heiligsprechung, ihre Erfüllung.
    Immer höher und höher stieg in dem göttlichen Gesange die Seele der Ersterbenden. Parsifal, das heilige Weihgefäß in den Händen, fühlte, wie diese Töne ihn von der Erde und von aller Beschränktheit des irdischen Daseins erlösten, und wie er auf ihren Schwingen himmelwärts schwebte. Und als er die Augen unverwandt nach oben richtete, da gewahrte er eine Taube, die sich vom Himmel zu ihm hinabsenkte! Ihm war es, als zöge sein eigener Blick mit der Gewalt der Sehnsucht diesen Boten Gottes zu sich hinunter. Immer tiefer stieg die Taube, immer mehr sank der Gesang aus den höchsten Höhen des Tempels hinunter, wurde nach und nach leiser, verstummte zuletzt. Der Gral erglühte nicht mehr. Alles blieb auf den Knieen hingestreckt.
    Als Parsifal die geweihte Schale wieder hinstellte, da gewahrte er die ihm von Weihnachten her so wohlbekannten drei Weisen aus dem Osten. Dicht an dem heiligen Tische knieten sie und blickten ihn fromm und freundlich an.
    Der jüngere trat feierlich auf ihn zu und sprach: „Sieh, Parsifal, wohin die Hoffnung dich geführt hat! Du bedarfst ihrer aber jetzt mehr denn je. Denn keine Erfüllung — auch nicht die höchste, wie diese — ist die Blüte, die des Menschen Traum sich malte, sondern sie ist ein neuer   S a m e,   und jenes Hoffen war schon, unbewußt, die wahre Blume, der Same aber kommt wieder in die dunkle Erde hinab und muß nun, durch neue Triebe, von neuem zum Licht empor zu wachsen streben. Gott ist eben nicht bloß größer, stärker, weiser...  als wir Menschen, sondern er ist   a n d e r e r   Art, und darum ist die Hoffnung des reifen Mannes, ja, sogar die des Greises genau ebenso wahnvoll wie die des Jünglings. Die Hoffnung ist ein Gebet, sie steigt zum Himmel, solange die Blume duftet; Gestalt aber muß sie haben, sonst wäre sie das Nichts; die   E r f ü l l u n g   der Hoffnung ist aber, immer und überall, auch wo sie in der strengen Gestalt grausamer Härte, unerbittlicher Weigerung auftritt, das Göttliche. Gottes Hand ist überall, und der Tod deines treuen Allat, der dich fast an Gott verzweifeln ließ, war auch eine Erfüllung. Fassen kannst du das nicht, gedenke aber dessen stets; denn nun — als König — wirst du alle Morgen mit kühnen, dein Volk begeisternden Hoffnungen dich erheben müssen, und alle Abende wird Gottes herber Segen der unerfüllenden Erfüllungen auf dein gekröntes Haupt sich senken.“
    Mit einem tiefen Blicke aus seinen schönen Augen trat der heilige Mann zurück. Parsifal war bei diesem Blicke zumute, als müßte sein Herz bersten; er wußte nicht, ob vor Wonne oder vor Wehe.
    Jetzt neigte sich an sein Ohr der kräftige Glaubensheld, der kein Freund vielen Redens war und bei ihrer früheren Begegnung geschwiegen hatte. „Schon wie du das erste Mal hier warst, Parsifal, hörtest du den Gesang — Der Glaube lebt, die Taube schwebt, des Heilands holder Bote —; gern hättest du das verstanden und plagtest dich, den Sinn der Worte zu ergründen; dabei bliebst du ein dummer Tor. Jetzt aber richtetest du die Augen zum Himmel empor, und die Taube schwebte über dein Haupt hinab. Nicht verstehen, sondern   s e h e n,   das ist Glaube. O König! halte die Augen weit offen, daß du nach Gottes Willen herrschen mögest!“
    Während er sprach, maß Parsifal mit dem Blicke eines kundigen Helden die Gliedmaßen des starken Mannes und erwog seine gewaltige Kraft.
    Und nun trat der ehrwürdige Greis mit segnender Gebärde auf ihn zu. „Sei gegrüßt, mein Sohn! Mir lacht das Herz bei deinem Anblick, denn du bist ein wahrer Held der Liebe, und große Dinge sollst du in des höchsten Herrn Auftrag noch vollbringen. Aber ausgelernt hast du in der Liebe nicht; das Schwerste steht dir noch bevor. Du hast gelernt, Gott mit aller Hingebung, mit aller Aufopferung zu lieben und dem Tiere unbedingt zu vertrauen; jetzt, als Herrscher und Hirt, wirst du aber täglich mit Menschen, mit vielen Menschen in Berührung kommen und an ihnen Liebe und Weisheit bewähren müssen: das ist das schwerste Amt. Denn um das Tier zu verstehen, braucht man es nur rückhaltlos zu lieben, das sahst du an deinem guten Allat; kein anderes Verhältnis ist zwischen Mensch und Tier möglich; was es an dem Tiere zu begreifen gibt, das geht durch die Liebe zu ihm in den Verstand über. Bei Gott ist es anders, denn nicht mit unseren Augen sehen wir ihn; der Wilde fürchtet ihn nur, und manches große Volk erblickt noch immer in ihm, vor allem, den Gott der Vergeltung und des Zornes. Viel, viel mußte der Mensch gedacht, manche Prüfung mußte er überstanden haben, ehe er es begriff, daß Gott die Liebe sei. Das zu begreifen ist das höchste Amt der Vernunft. Hierdurch erweist sich die Vernunft als eine göttliche Gabe, während sie sonst oft des Teufels Erbteil zu sein scheint; und indem diese Gabe, welche den Menschen allein unter allen Wesen ziert und dadurch schon ihre hohe Art bezeugt, indem sie, deren Eigenart der Stolz ist, bis zur Demut sich fortentwickelt, indem ihr Denken, ihre Verstehen in Liebe sich auflöst, wird der göttliche Kreis des Lebens in sich zum vollkommenen Abschluß gebracht. Nach unten zu reichte unsere Liebe bis zum Verstehen, nach oben zu löste unser Denken sich ganz in Liebe auf. Das Heiligwerden ist die Verklärung der Vernunft durch die Liebe; die Weisheit ist das Durchdringen der Liebe bis zum Verständnis!...  Wie schwierig aber, Parsifal, ist es, die Menschen richtig zu lieben! Dort, wo es sich um Gott und Tier handelte, war alles unbedingt; dort durfte jeder Einzelne die eine Richtung nur innehalten, hinausstrebend so weit seine Kräfte es ihm gestatteten; hier, dem Menschen gegenüber, ist alles bedingt. Die Liebe zum Menschen, die nicht mit wohlbedachter Klugheit durchsetzt ist, stiftet Unheil, und die Weisheit, wenn im denkenden Hirn das warme Blut eines liebenden Herzens nicht lebenspendend schlägt, ist nichts weiter als eine Vernunft, die sich selbst das Grab gräbt.“
    Parsifal hatte zwar auf seinen einsamen Pfaden viel und mancherlei gedacht, selten aber war er seinen Gedanken bewußt nachgegangen, vielmehr hatte er sich dem Eindruck ihres Gefühlsinhaltes überlassen und sich dabei beruhigt; den jetzigen Augenblick empfand er als einen feierlich ernsten. Er fühlte, wie der frische, duftende Rosenkranz der Torheit von seinem Haupte entfernt und die schwere, goldene Krone des Wissens fest auf seine Stirne herabgedrückt wurde.
    Der Greis sprach weiter: „Der Mensch ist in einer Beziehung Tier; als solches verdient er das selbe Vertrauen und die selbe mitleidsvolle Liebe wie dieses; er ist aber auch göttlichen Wesens, und in dem bescheidensten deiner Diener, König, lebt etwas von jenem Höchsten, vor welchem du in stummer Andacht und Anbetung das Knie beugen mußt. Vor allem aber, Mensch bist du selber!...  darin liegt das Schwere ausgesprochen. „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“ lehrte uns der Heiland; und in die Liebe zu sich selbst soll sich viel Strenge, viel Unnachgiebigkeit, ja, auch Härte mischen; die Liebe zu sich selbst mißtraut häufig, forscht, erwägt, überblickt das Vergangene und berechnet die Zukunft. Auf diese Art sollen wir unseren Nächsten lieben! Wenig Spielraum läßt unser Gewissen der Liebe zu uns selbst; denn unsere Leiden empfinden wir als Schuld, unsere Freuden als Gnade; so, Parsifal, sollst du deinen Nächsten lieben! Wahrlich, ich sage es dir, dein unwissend Roß verstarb, auf daß du zur rechten Zeit in der heiligen Burg anlangtest, und Gottes Sohn hängt ewig am Kreuze, auf daß du Erlösung findest; nur deine Erlösung kann ihn, den Göttlichen, erlösen: daran denke, wenn du deinen Nächsten richtig lieben willst!“
  Immer tiefer neigte Parsifal das Haupt; er sah nicht mehr zu dem Greisen empor; seine Stimme drang zu ihm, als käme sie aus einer anderen Welt. „Als du den Blick des Schwanes begriffst, da begriffst du die ganze Tierwelt; als du die Stimme des Heilands — rette mich! — vernahmst, da betratest du den einen, einzigen Pfad, der zu Gott führt. Doch ebenso wie du dich selber als eine ganze Welt empfindest, so steht nun jeder Mensch vor dir, o König, als eine solche Welt. Nicht gleicht der eine Menschenblick dem anderen, noch schlägt der einen Stimme Klang dem anderen ähnlich an das Ohr. Und jener andere Blick ist Spiegel einer anderen Welt, und diese andere Stimme ist Widerhall einer anderen Klage. So tritt ein jeder jetzt an dich heran, und du, in dessen Wort Heil oder Unheil wurzelt, du mußt diesen Blick neu ergründen, wie dazumal den des Schwanes, und aus dieser fremden Stimme mußt du die Klage des Heilands neu vernehmen, der auch für jenen starb...“
    Gebannt lauschte Parsifal; ihm war zumute, als ob jener „herbe Segen der unerfüllenden Erfüllungen“, von dem der jüngere Weise gesprochen, schon heute, am Abend seines ersten Gralsrittertages, auf sein Haupt sich gesenkt hätte. Was er erstrebt, hatte er vollbracht: im heiligen Tempel ruhte nunmehr sicher geborgen die geweihte Waffe, und von neuem strahlte der Gral über die hinsiechende Ritterschaft, sie zu Kraft und Taten segnend. Aber wie leicht waren jene Jahre der Irrfahrten durch Wüsten und fremde Länder gewesen im Vergleich zu dem Amte, das ihm jetzt aufgetragen worden! Diese Krone des Wissens und der Macht, die Gott selbst auf sein Haupt gesetzt, sie war ein Dornenreif; in schweren Tropfen stand der Angstschweiß auf Parsifal‘s Stirn, denn mit dem Bewußtsein der Größe seiner Taten und der Größe seiner daraus erwachsenen Pflichten war auch das Wissen von seiner gänzlichen Vereinsamung unter den Menschen ihm aufgegangen. Jeden Blick würde er nunmehr ergründen und jeder Stimme Klang erfassen; ihm gegenüber jedoch würden alle Menschen blind und taub bleiben, als schaue er auf das unbegrenzte Meer hinaus, so würde sich sein Blick verlieren, und seiner Stimme Klage wie in einer Wüste ohne Widerklang, verhallen; sonst wäre er ja nicht König! sonst hätte Gott ihn nicht unter allen ausgesucht, ihn so hoch empor zu erheben! Noch viel schwerer als an dem Morgen dieses Tages, als Allat starb, empfand er die Last der angestammten Schuld und die vernichtende Verantwortlichkeit für alles Leiden auf der Welt. Wer wußte, ob er nicht die Schuld und das Leiden mehren würde?...
    Du siehst, die Gedanken und die Empfindungen strömten mannigfaltig durcheinander in Parsifal‘s Seele und zwangen ihn, zu Gott zu flüchten; dort allein fand er Trost und Vertrauen und Kraft.

* * * *

    Doch, aus dem inbrünstigen Gebete wurde er durch den Laut vieler Stimmen aufgescheucht. Der Morgen begann schon zu dämmern und erhellte das Gemach, in das jetzt mehrere Ritter eintraten, um dem Könige zu künden, daß Botschaft — die erste seit vielen, langen Jahren! — soeben eingetroffen und Gläubige den Schutz der Ritterschaft in harter Drangsal erflehten.
    Parsifal befahl, seine Rüstung zu bringen; in diesem ersten Kampfe wollte er selber Führer sein. Doch als er fertig gerüstet, das Schwert umgürtet und auch der Helm befestigt war, bedeutete er die Ritter, ihn allein zu lassen; ein Gebet noch wollte er zum Himmel richten.
Die Ritter, die ihn auf den Knieen gefunden und daraus entnommen hatten, daß er die ganze Nacht hindurch schon gebetet hatte, waren ob dieser Verzögerung ungeduldig; Parsifal aber wußte, daß es vor Gott keine Zeit gibt, sondern nur Kraft: nicht zählen darf der Held die Stunden, die er dem Versenken in Gott weiht; in einem unmeßbar kurzen Augenblick, wie des Himmels Blitz, wird dann sein Arm des Bösen Haupt zerspalten.

* * * *

    Als Parsifal nun, anstelle des lieben, unvergeßlichen Allat, ein neues, stolzes Roß bestieg, da fühlte er, daß er in ein neues Leben einträte.
    Als er aber zum Burgtor hinaus und durch Wald und Auen ritt, da erblickte er die selbe Gottes Welt wie allezeit: der Sonnenschein, die Blumen, der Vogelsang... es war alles das ihm seit einer frühen Kindheit ans Herz gewachsene Alte. Und da empfand Parsifal, auch er sei der gleiche geblieben; der Gralskönig war kein anderer als der Tor, der den Schwan erschoß. Die selbe   H o f f n u n g,   die ihn dazu trieb, als Knabe den glänzenden Rittern nachzulaufen, die ihn voll Übermut in die Schar der Blumenmädchen hinunterspringen ließ, die ihn durch lange Jahre der Irrnisse und der Leiden bis zur Gralsburg leitete, die selbe Hoffnung führte ihn jetzt gegen Gottes Feinde ins Feld! Und dieser felsenfeste   G l a u b e,   mit dem er heute wider den Bösen auszog, war es nicht der selbe, der ihn regungslos stehen ließ, als Klingsor den Speer nach ihm warf? Riesen hatte er schon als Kind erschlagen; es stand ihm aber nicht zu, die heilige Waffe zu erkämpfen, Gott nur durfte sie ihm in die Hand legen; ohne jede Zweifelsregung hatte er der mit wilder Macht gegen ihn geschleuderten Waffe die glaubensstarke Brust dargeboten! Und was diese Nacht sein Herz so tief bewegt hatte — der Kummer um Allat, das Bewußtsein von der erdrückenden Schuld der ganzen Menschheit, das allgemeine Leiden, seine eigene Vereinsamung...  war es nicht die selbe   L i e b e,   die als Träne dem erschlagenen Schwane und dem göttlichen Heiland am Kreuze geflossen war?
    Als er schweigend weiter ritt und der Lehren der drei Weisen dachte, da empfand er, daß, wenn auch weder er selbst, noch die Welt anders geworden war, eines doch sich geändert hatte: er war Gott näher, viel näher gekommen. Er hätte es nicht in Worten zu sagen vermocht, er begriff aber jetzt, was ihn der Gesang im Gralstempel hatte empfinden lassen, daß das tiefste seelische Leid einen Punkt erreicht, wo es mit der höchsten Seligkeit zu einem einzigen untrennbaren Ganzen zusammenfließt. Beides führt zu jenem „höchsten Heiles Wunder“ der   E r l ö s u n g;   die unvollkommene menschliche Natur, die das wahre Wesen der Erlösung nicht erschauen kann, sucht es wenigstens wie mit zwei Händen zu erfassen und sich daran festzuklammern: mit dem tiefsten Leide und mit der höchsten Seligkeit. Nur   e i n e   Krone aber hat der Heiland auf Erden getragen, die Dornenkrone; Gott darf kein Auge erschauen, das nicht durch Tränen geläutert ward. Göttlich jedoch ist einzig diejenige Träne, welche, wie des Heilands, aus Mitleid fließt; denn diese Träne vergießt der Gott in uns.
    Also denkend, ritt Parsifal weiter.
    Man kann sagen, von jetzt an war sein ganzes Leben ein Gebet.

Aus: Parsifal-Märchen von HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN München 1916



 

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