Die Streitkräfte von Atlantis
Die Atlanteer, welche ein fruchtbares Land in der Nähe des Ozeans bewohnen und durch Gewissenhaftigkeit und Freundlichkeit gegen die Fremden sich vor ihren Nachbarn auszeichnen sollen, behaupten, in ihrer Gegend seien die Götter geboren...
Der erste König der Atlanteer war nach ihrer Fabellehre Uranos. Er vereinigte die zerstreut wohnenden Menschen, die sich in Städten sammelten... Auch eroberte er den größten Teil der bewohnten Welt, namentlich die westlichen und nördlichen Länder...
Als ein fleißiger Beobachter der Gestirne sagte er vieles, was am Himmel geschah, voraus. Das Volk lehrte er nach der Bewegung der Sonne das Jahr, und nach der des Mondes die Monate zu bestimmen...Nachdem er dem Kreise der Menschen entrückt war, erwies man ihm wegen seiner Verdienste und Kenntnis der Gestirne die Ehre des Unsterblichen.“
(aus: Diodor von Sizilien, 3. Buch 56, in der Übersetzung von J.F. Wurm, 1827)
Atlantis
Was war Atlantis? Eine Insel oder ein Inselreich im Atlantischen Ozean? Ein Kontinent, so groß wie Afrika und Asien zusammen? Ein mächtiger Einzelstaat Atlantis oder ein Staatenbund Atlantis?
Der Bericht des Solon (ca. 640 – 560 v.Chr.) bezeichnet sowohl den einzelnen, den „königlichen Staat“, dem die Oberhoheit und Führungsrolle zukommt, als auch die Gemeinschaft aller zehn Staaten als Atlantis. Das führt von jeher zu Mißverständnissen. Häufig wird auch die auf einer relativ kleinen, künstlichen Insel gelegene Hauptstadt jenes „königlichen Staates“, die Basileia, als Atlantis angesehen. So glaubt mancher, das Rätsel Atlantis gelöst zu haben, wenn er einen Ort findet, für den die Beschreibung der Basileia zuzutreffen scheint. Dabei werden andere Aspekte wie die Lage in einer Tiefebene am Atlantischen Meer ausgeblendet, und es wird übersehen, daß es im Atlanterreich neun weitere Landeshauptstädte gegeben hat, die möglicherweise die Basileia zum Vorbild hatten, das gleiche könnte auch für Kolonien der Atlanter gelten.1
Wo aber lagen das Kernland Atlantis, der „königliche Staat“ mit der Basileia, wo die anderen neun Staaten des „Insel Atlantis“ genannten Atlanterreiches? Mitten im Atlantischen Ozean oder sogar jenseits? Oder erstreckten sich die zum Atlanterreich gehörenden Länder entlang der Atlantikküsten Westeuropas, wie es die Beschreibung des Diodor von Sizilien (ca. 90 - 30 v.Chr.) nahelegt?
Wir wollen versuchen, Antworten zu finden, indem wir die Atlantisüberlieferung aus strategischer und militärischer Sicht betrachten. Platon macht im Dialog Kritias konkrete Angaben zur Wehrverfassung, zu Umfang und Struktur der Streitkräfte. Diesen Angaben wollen wir nachgehen.
Gründung und Verfassung des Atlanterreiches
Rufen wir uns dazu Geschichte und Verfassung des Atlanterreiches in Erinnerung. Seine Gründung erfolgte vermutlich spätestens zu Beginn der Jungsteinzeit. Begründer und erster Herrscher eines großen Reiches „am“ Ozean war der Meeresgott Poseidon. Nach Diodor soll Uranos der Begründer sein. Beide Namen lassen sich mit Namen und Begriffen aus germanischen Sprachen verbinden: Poseidon oder Posides mit dem Friesengott Fosites oder Forsite² und Uranos mit Urahne, einem germanischen Wort für Vorfahre, althochdeutsch urano.³ Poseidon lebte mit seiner Frau Kleito auf deren elterlichen Wohnhügel, einer niedrigen Erhebung in einer weiten Tiefebene nahe dem Ozean. Der Ort lag auf Meeresniveau oder nur sehr wenig darüber, denn Poseidon umgab den Hügel mit einer starken Schutzwehr aus drei breiten Ringen von Meerwasser und zwei von Erde und machte seine Residenz auf diese Weise zu einer künstlichen Insel, die durch einen Kanal mit dem Meer verbunden wurde, die Basileia.4 Die tiefe Lage erklärt den späteren Untergang durch eine Flutkastastrophe, ausgelöst durch den Einschlag eines Himmelskörpers, „Sturz des Phaéthon“, oder ein anderes Ereignis.5 Unter den Nachkommen Poseidons wurde die Basileia ausgebaut, erhielt Häfen und Schiffsarsenale und blieb viele Generationen lang Sitz der Könige von Atlantis. Zugleich war sie der Ort, an dem alle zehn Herrscher des Atlanterreiches im Wechsel von fünf und sechs Jahren zu Beratungen, Rechtsprechung und gemeinsamen Opferhandlungen zusammen kamen, wobei sie ihre Gemeinschaft aufs neue beschworen und ihr Bündnis erneuerten. Der Name Basileia, die Endung -eia bedeutet Insel, soll sich von dem griechischen Wort Basileus für König herleiten. Es könnte jedoch auch umgekehrt gewesen sein: der Herrscher der Basil-eia wurde Basileus genannt, und dieser Begriff wurde Synonym für „König“.
Kleito gebar fünf mal Zwillingssöhne. Poseidon teilte später sein Reich unter diese zehn Söhne auf (Kritias 113e). So entstanden die zehn Staaten des Atlanterreiches, die nach der von Poseidon gegebenen Verfassung als Gemeinschaft verbunden blieben. An der Spitze der einzelnen Staaten stand jeweils einer der Söhne Poseidons und in deren Nachfolge stets wieder der älteste Sohn und Erbe des betreffenden Herrschergeschlechts.
Der erstgeborene Sohn mit Namen Atlas erhielt „den größten und besten“ Anteil mit der Hauptstadt Basileia (Kritias 114a) zugesprochen. Nach ihm wurde sein Teilreich Atlantis genannt. Gleichzeitig bestimmte Poseidon ihn zum König über die anderen Fürsten und das Gesamtreich. Diese Führungsrolle und Oberhoheit waren durch Poseidons Gesetz für alle Zeiten an den König von Atlantis und an die Basileia als zentralen Versammlungsort der Fürsten gebunden.
So werden in Solons Bericht sowohl der „königliche Staat“, das Teilreich des Atlas, als auch das Gesamtreich Atlantis genannt, der Grund für zahllose Mißverständnisse. In der Geschichte der Völker, Nationen und Staaten ist es allerdings ein häufiger Vorgang, daß der Name eines Herrschers, eines Volkes, einer Stadt oder eines Landes auf ein größeres Ganzes übertragen wird. Ein Beispiel von vielen ist die Stadt Rom, die dem großen Römischen Reich und den „Römern“ den Namen gab. Es ist daher wichtig, sorgfältig zu unterscheiden zwischen dem „königlichen Staat“ Atlantis (Kritias 119b) mit der Hauptstadt Basileia und dem „Insel Atlantis“ genannten Atlanterreich, welches alle zehn Staaten als Bund umfaßte.
Ein großes Reich aber kein Superkontinent
Der „königliche Staat“ Atlantis soll mit seiner Ausdehnung von etwa 3000 x 2000 Stadien, das entspricht 555 km x 370 km, größter der zehn Staaten gewesen sein. Seine Fläche entspräche ungefähr 205 000 km². Damit wäre dieser Staat an Fläche deutlich kleiner als Frankreich, Spanien, Deutschland, Italien, Polen, Finnland, Schweden oder Norwegen gewesen, am nächsten wäre er dem Vereinigten Königreich gekommen, das an Fläche nur etwa 20 Prozent größer ist.6 Aus Sicht der damaligen Stadt- und Kleinstaaten Griechenlands mußte dieser Staat allerdings sehr groß erscheinen. Wenn er der größte von zehn Staaten war, dann sind die anderen Anteile kleiner gewesen. Betrachten wir die politische Karte des heutigen West- und Nordwesteuropas, so finden wir dort mindestens neun Staaten mit Küsten am Atlantischen Meer. Davon haben einige die mehrfache Größe des Staates Atlantis. Allein die Fläche Frankreichs wäre mehr als 2,5mal so groß wie der „königliche Staat“. Das relativiert die Vorstellungen von der „Größe“ der einzelnen Staaten wie des ganzen Atlanterreiches.
Indessen hat die Angabe, die „Insel Atlantis“, gemeint ist das ganze Atlanterreich, sei so groß gewesen wie Asien und Lybien zusammen, zu der falschen Vorstellung geführt, es müsse sich um einen im Atlantischen Ozean versunkenen Superkontinent gehandelt haben. Das aber entbehrt jeder Grundlage, denn in der Zeit Solons (ca. 640 – 560 v.Chr.) oder Platons (427 – 347 v.Chr.) war die bewohnte Welt, die Oikumene, noch nicht in Kontinente nach unserem Verständnis aufgeteilt. Es ist zweifelhaft, ob man den Begriff überhaupt kannte, denn das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „das Zusammenhängende“. Es wurde in römischer Zeit in der Bedeutung „Festland“ verwendet, den heutigen Begriffsinhalt „Erdteil“ hatte es jedenfalls noch nicht. Zur Zeit des Atlantisberichts waren Europa, Asia und Lybia Hauptregionen am Mittelmeer. Nur die Grenzen zwischen diesen Regionen standen ungefähr fest, ihre Ausdehnung nach den anderen Seiten war dagegen unbestimmt. Zu Asia rechnete man Kleinasien, die östliche Mittelmeerküste und Ägypten. Libya war das an Ägypten grenzende Nordafrika, und unter Europa verstand man Griechenland mit westlich und nördlich benachbarten Gegenden. Aus dieser Sicht bleibt von einem Superkontinent Atlantis nichts übrig. Das gesamte Atlanterreich mit seinen zehn Staaten hätte in West- und Nordwesteuropa Platz gefunden. Für damalige Verhältnisse war es ein Riesenreich, aber schon das Römische Reich ist bedeutend größer gewesen.
Das Gadeirische Land, äußerstes Ende der Insel Atlantis
Platon nennt die Namen aller zehn Söhne des Atlas, aber er gibt keinen Hinweis auf die geographische Lage ihrer Anteile, mit einer Ausnahme: ganz gezielt beschreibt er die Lage jenes Anteils, der dem Zwillingsbruder des Atlas, dem Gadeiros, zugesprochen wurde. Dieser nämlich „erhielt den äußersten Anteil der Insel, von den Säulen des Herakles bis hin zum Gadeirischen Land, wie es noch jetzt in jener Gegend genannt wird.“ (Kritias 114b). Da gibt es nun keinen Zweifel: Platon bezeichnet ein Teilreich der Atlanter im heutigen Südwestspanien, im Gebiet zwischen Gibraltar und Cadiz, das in der Antike Gadeira, Gadira und Gades hieß (Abbildung 1).
Wenn das „der äußerste Anteil der Insel“ war, dann ist zu fragen, in welcher Richtung sich die „Insel Atlantis“ von hier aus erstreckte. Die Antwort ist eindeutig: gewiß nicht nach Westen oder Süden, es bleibt die Ausdehnung nach Norden. Somit wäre das Reich des Gadeiros „der äußerste“, also der südlichste Teil des Atlanterreiches gewesen. Daraus ist zu schließen, daß sich dieses Atlanterreich entlang der europäischen Küsten des Atlantischen Meeres erstreckte und nach unseren Begriffen gar keine Insel war.
Die vermeintliche „Insel Atlantis“ lag für die Bewohner des Mittelmeeres „vor den Säulen des Herakles“, damit ist nichts anderes gemeint als „außerhalb des Mittelmeeres“. Sie war auf dem Seeweg nur durch Passage der Meerenge von Gibraltar, den „Säulen des Herakles“, zu erreichen. Hier aber begann schon der Gadeirische Staat, „der äußerste Anteil“ des Atlanterreiches!
Die endlos erscheinende Seefahrt zu den weiter nördlich gelegenen Teilen, vorbei an wenig bekannten und unerforschten Küsten und Inseln, erklärt die Beschreibung des Atlanterreiches als „Insel Atlantis“. Das Reich der Atlanter und der „königliche Staat“ aber lagen nicht „im“, sondern „am“ Atlantischen Meer, das seinen Namen von Atlas und den Anwohnern dieses Meeres hatte. Diodor hatte vor 2000 Jahren noch eine richtigere Vorstellung, wo die „Atlanteer“ wohnten, wenn er sagt, sie wohnten „in der Nähe des Ozeans“.
Die Atlanter beherrschten das westliche Mittelmeer und Nordafrika
Für unsere Untersuchung ist ferner die Aussage wichtig, wonach die Könige „außer der Insel Atlantis“, noch viele andere Inseln und Teile des Festlandes (!) beherrschten „und dazu von den Ländern am Binnenmeer (Mittelmeer) Libyen bis nach Ägypten und Europa bis nach Tyrrhenien“ (Timaios 25b). Dies wird an anderer Stelle wiederholt, wo es heißt: „Diese übten zudem noch, wie schon früher gesagt wurde, ihre Herrschaft auch über die innerhalb der Säulen des Herakles Wohnenden bis nach Ägypten und Tyrrhenien aus“(Kritias 114c).
Sieh da! Das bedeutet also, daß die Atlanter die heutige Meerenge von Gibraltar, das Tor zum Mittelmeer, beherrschten und sich ihre Macht außerdem schon lange vor dem Eroberungszug auf das westliche Mittelmeer außer Tyrrhenien (Italien) und auf Nordafrika außer Ägypten erstreckte. Die Balearen, Sardinien und Korsika wie auch große Teile Nordafrikas gehörten demnach zum Macht- und Einflußbereich der Atlanter, ohne Staaten des Atlanterreiches zu sein. Die dort ansässigen Völker waren vermutlich nicht unterworfen, sondern dem Atlanterreich durch Freundschaft und Bündnis verpflichtet. Macht und Einfluß in diesen Gebieten können auch nur durch eine friedliche Politik, nicht mit militärischen Mitteln, gesichert worden sein, denn das hätte der Stationierung umfangreicher Land- und Seestreitkräfte bedurft, wie dies später im Römerreich der Fall war. Davon ist jedoch an keiner Stelle die Rede, und anders als Athener und Ägypter oder später die Römer, unterhielten die Atlanter keine stehenden Heere und Berufsarmeen, wie wir noch sehen werden. Zudem wird den Atlantern eine hohe und friedliche Gesinnung über viele Menschenalter hinweg ausdrücklich bescheinigt, eben bis zu jener Zeit als „diese ganze zur Einheit zusammengeballte Macht“ den Plan faßte, „euer (der Griechen) und unser (der Ägypter) Land sowie überhaupt alles Land innerhalb der Meerenge durch einen einzigen Kriegszug in ihre Gewalt zu bringen“ (Timaios 25b). Zuvor wurde schon berichtet, daß Athen damals jener großen Heeresmacht der Atlanter Einhalt gebot, „welche im Atlantischen Meere ihren Ausgangspunkt hatte und von außen her übermütig gegen ganz Europa und Asien heranzog.“ (Timaios 24c).
Gegen ganz Europa und Asien?
Wie wir gesehen haben, beherrschten die Atlanter mit ihren Verbündeten schon vor Beginn des Krieges große Teile des westlichen Mittelmeeres und Nordafrikas. Ihr Eroberungszug „von außen her gegen ganz Europa und Asien“ hätte demnach das Ziel gehabt, nunmehr die übrigen Teile des Mittelmeerraumes unter ihre Herrschaft zu bringen. So können mit „ganz Europa“ nur Italien und Griechenland, mit „ganz Asien“ nur Kleinasien, die östliche Mittelmeerküste und Ägypten gemeint sein, das im Altertum Asien zugerechnet wurde. Der ägyptische Priester, der dem Solon berichtet, sieht sich als Bewohner Asiens, wenn er von seinem Volk berichtet, dass „wir unter den Bewohnern Asiens“ die ersten waren, die sich mit Schild und Speer bewaffneten (Timaios 24b), wie zuvor schon die Athener.
Der Ausgangspunkt für diesen Kriegszug soll „im Atlantischen Meer“ gelegen haben. Es müsste richtig heißen, „im Gebiet des Atlantischen Meeres“ oder „am Atlantischen Meer“. Aus militärischer, strategischer und geologischer Sicht ist es völlig unmöglich, daß dieser Kriegszug von einer großen Insel oder einem Kontinent „im“ Atlantischen Meer, irgendwo westlich Europa oder Afrika oder gar von jenseits des Atlantischen Ozeanes, ausgegangen sein könnte. Niemals hätten die Atlanter auch von dort aus das westliche Mittelmeer und große Teile Nordafrikas beherrschen können.
Der Ausgangspunkt jener großen Heeresmacht ist daher an den europäischen Küsten des Atlantischen Meeres zu suchen. Für den ägyptischen Priester, der dem Solon berichtete, lagen diese Küsten freilich „vor den Säulen des Herakles“, in der Ferne des unbekannten Atlantischen Meeres. So ist es verständlich, dass er meinte, Atlantis sei eine Insel. Bis zum Beginn der Neuzeit wurden ferne, unbekannte Küsten für Inseln gehalten. So galt Skandinavien, Scandia, noch in spätrömischer Zeit als Insel. Ebenso kamen die Truppen der Verbündeten der Atlanter nicht „von außen her“, sondern sie hatten ihre Ausgangsräume für den Eroberungszug im westlichen Mittelmeer und Nordafrika. Von dort konnten sie auf dem Lande Ägypten und von See her griechische Inseln angreifen.
Die Land- und Seestreitkräfte des „königlichen Staates“
Betrachten wir die Streitkräfte des einzelnen „königlichen Staates“, wie sie der Dialog Kritias beschreibt (118e, 119a und 119b). Dieser Staat hatte eine Ausdehnung von 3000 mal 2000 Stadien, sein Staatsgebiet war in 60000 Distrikte zu 10 mal 10 Stadien oder 1850m mal 1850m eingeteilt. Die Distrikte hatten demnach die Größe von 3,422 Quadratkilometern. Sehen wir aber genauer hin, so sind die Distrikte eine Quadratmeile groß, denn die Seitenlänge von zehn Stadien entspricht noch heute einer Nautischen Meile oder der Länge einer Bogenminute des Erdumfanges. Das Land hatte also eine Fläche von 60 000 Quadratmeilen, die hier als Distrikte bezeichnet sind. Die Soll-Stärke der Streitkräfte berechnete sich offenbar nach der Zahl dieser Distrikte. So hatte jeder Distrikt im Kriegsfalle einen Anführer (Offizier) zu stellen und dieser hatte bereitzuhalten: 1/6 eines Streitwagens, 2 Pferde, 2 Reiter, ein Zweigespann mit 2 Pferden und 2 Berittenen, davon war einer mit kleinem Schild ausgerüstet und saß zum Kampf ab, während der andere beide Pferde führte, ferner 2 Schwerbewaffnete, je 2 Bogenschützen und Schleuderer, je 3 Steinewerfer und Speerwerfer sowie 4 Seeleute für die Bemannung von insgesamt 1200 Schiffen (Abbildungen 2-5).
Das ergibt je Distrikt: 1 Anführer und 20 Mannschaften (1/20), davon 4 Seeleute. Für je sechs Distrikte (20,5km²) ergibt dies 6 Anführer und 120 Mannschaften (6/120), davon 24 Berittene und 24 Seeleute, außerdem 1 Streitwagen und 24 Pferde.
Für die Gesamtstreitkräfte dieses einen Staates Atlantis errechnet sich somit eine Stärke von 60 000 Anführern (Offizieren) und 1 200 000 Mannschaften mit 240 000 Pferden, 10 000 Streitwagen und 1200 Schiffen.
Die Distrikte von der Größe einer Quadratmeile (3,422km²) waren indessen viel zu klein, um eine Truppe in Stärke von 1/20 aufbieten zu können. Das war auch dem Berichterstatter klar. Platon weist deshalb im Dialog Kritias ausdrücklich darauf hin, daß es in den Bergen und im übrigen Lande dichter besiedelte Gegenden gab, „in denen eine große Menschenmenge lebte“. Aus diesen Gegenden seien den Anführeren Mannschaften zugewiesen worden (Kritias 119b). Diese mußten sicher auch Ausrüstung und Pferde mitbringen. Die Zahl der Distrikte = Quadratmeilen war demnach die Planungsgrundlage für den Umfang der Streitkräfte.
Nehmen wir an, daß nur jeder zehnte Atlanter zu den waffenfähigen Männern im Alter von 16 bis 46 Jahre zählte, dann müßten in diesem Staat 12,6 Millionen Menschen gelebt haben, das wären 61,5 Einwohner je km², was etwa der Bevölkerungsdichte in der Republik Irland entspricht.7 Es ist aber denkbar, daß sogar jeder fünfte Einwohner zu den waffenfähigen Männern in diesem Alter zählte (30 Jahrgänge). In diesem Falle genügte eine Bevölkerung von 6,3 Mio Menschen, das entspräche einer Siedlungdichte von 30,7 Einwohnern pro km².
Am Ende betont der Bericht: „So war das Kriegswesen des königlichen Staates eingerichtet, von den übrigen neun aber hatte jeder besondere Einrichtungen, über die zu berichten zu viel Zeit erfordern würde“ (Kritias 119b). Es handelt sich also nur um einen Teil der Streitkräfte des Atlanterreiches. Auch wenn die anderen neun Staaten kleiner und der Umfang ihrer Streitkräfte geringer gewesen sind, muß man doch eine mehrfache Gesamtstärke aller Streitkräfte des Atlanterreiches annehmen.
Für den „königlichen Staat“ ergibt sich, daß seine Streitkräfte auf eine umfassende Wehrpflicht und das Aufgebot aller waffenfähigen Männer angewiesen waren, während es gleichzeitig in Athen und in Ägypten einen „Stand der Krieger“ gab, „dem vom Gesetz der Auftrag ward, sich um nichts weiter als das Kriegswesen zu kümmern“. Dieser Stand war von allen anderen Ständen geschieden, seine Krieger waren zuerst in Athen und dann in Ägypten mit Schild und Speer bewaffnet worden (Timaios 24b).
Fähigkeiten der Streitkräfte
Betrachten wir die Zusammensetzung dieser Streitkräfte, stellen wir fest, daß das Heer einen Umfang von 960 000 Mann mit 240 000 Pferden und 10 000 Streitwagen hatte, während die Marine aus 240 000 Mann mit 1200 Schiffen bestand. Die Landstreitkräfte besaßen demnach ein klares Übergewicht von 80 zu 20 Prozent. Ihr Umfang und ihre Zusammensetzung mit einer enorm starken Reiterei schließen aus, daß Atlantis ein Inselstaat „im“ Atlantischen Meer gewesen sein könnte. Ein solcher wäre zu damaliger Zeit nie durch fremde Streitkräfte bedroht gewesen und hätte zu seiner Verteidigung niemals umfangreicher Landstreitkräfte bedurft.
Sie hätten aber auch nicht als Interventionsstreitkräfte getaugt und niemals zu einer Invasion des Festlandes eingesetzt werden können. Eine unvorstellbar große Flotte an Ruderschiffen wäre erforderlich gewesen, um ein Heer von 960 000 Mann mit 240 000 Pferden, 10 000 Streitwagen und Logistik – Trinkwasser, Verpflegung und Futter - tagelang über See zu tranportieren und anzulanden.8 Wozu sollte ein Inselstaat diese Streitkräfte überhaupt gebraucht haben, sie wären völlig überflüssig gewesen.
Ein Staat mit derart starken Landstreitkräften, mit einer „Kavallerie“ von 240 000 Berittenen und 10 000 Streitwagen, kann nur auf dem Festland gelegen haben. Nur da hätten sie zur Verteidigung des Landes oder für einen Eroberungszug eingesetzt werden können. Andererseits weist die starke Marinekomponente mit 1200 Schiffen und 240 000 Mannschaften darauf hin, daß dieser Staat Meeresküsten besaß und eine Marine benötigte. Das aber können nur die Küsten des Atlantischen Meeres gewesen sein. Daraus folgt: Atlantis war nach Umfang, Struktur und Fähigkeiten seiner Streitkräfte keine Insel im Atlantischen Meer, sondern ein Staat bzw eine Staatengemeinschaft auf dem europäischen Festland in der Nähe der Küsten des Atlantischen Meeres.
Die Bewegungsrichtungen
Betrachten wir die möglichen Operationen der Atlanter „gegen ganz Europa und Asien“, die den Zweck gehabt haben sollen, alle Länder am Mittelmeer unter ihre Herrschaft zu bringen. Der Ausgangspunkt dieses Eroberungszuges soll „im“ Atlantischen Meere gelegen haben, so der Bericht. Wir haben bereits erörtert, daß es nur „am“ Atlantischen Meer heißen kann.
Die Vorstellung, der Eroberungszug einer gewaltigen Heeresmacht der Atlanter „gegen ganz Europa und Asien“ könnte mit Tausenden von Ruderschiffen aus dem Atlantik heraus erfolgt sein, ist absurd. Der Eroberungszug der Atlanter richtete sich auch nicht „von außen“ gegen Europa und Asien, er ist vielmehr von Europa selbst ausgegangen, von den Ländern „am“ Atlantischen Meere. Aus Nordwest- und Mitteleuropa ist die Masse der Heere und Menschen, es war wahrscheinlich eine große Wanderung, quer durch den Kontinent, über die Alpen und das Donautal abwärts, gegen den Norden Italiens und Griechenlands und weiter nach Kleinasien gezogen. Ein kleinerer Teil der atlantischen Landstreitkräfte wird zusammen mit den verbündeten Libyern durch Nordafrika in Richtung Ägypten gezogen sein. Die Flotten der Atlanter und ihrer Verbündeten können den Eroberungszug, der überwiegend auf dem Lande geführt wurde, durch Unternehmungen gegen die Inseln im östlichen Mittelmeer und das Nildelta unterstützt haben.
Die Geographie Europas und des Mittelmeerraumes geben diese Bewegungsrichtungen vor. Ihnen sind deshalb die Wanderungen, Kriegszüge und Operationen der Streitkäfte von jeher gefolgt, von der Großen Wanderung der Bronzezeit über die Völkerwanderung bis in die jüngste Vergangenheit. Selbst Hannibal ist im 2. Punischen Krieg (218 – 201 v.Chr.) mit 100000 Mann und Elefanten von der Iberischen Halbinsel kommend über die Alpen nach Italien gezogen, um Rom von Norden her zu erobern.9
Ergebnis
Atlantis war weder ein Superkontinent noch eine große Insel im Atlantischen Ozean oder gar jenseits des Ozeans. Dies läßt sich durch Analyse der Streitkräfte und ihrer Fähigkeiten mit Sicherheit ausschließen. Es ist absolut unwahrscheinlich, daß ein Inselstaat fern im Atlantischen Ozean zu damaliger Zeit Landstreitkräfte zu seiner Verteidigung benötigte oder jemals in der Lage gewesen wäre, diese Landstreitkräfte zur Invasion Europas und Asiens über See einzusetzen.
Die allgemein herrschenden Größenvorstellungen sind übertrieben. Das Mutterland Atlantis hatte eine Größe von 60 000 Quadratmeilen oder 205 000 km². Es war damit kleiner als England. Die Fläche aller zehn Staaten des Atlanterreiches zusammen war nicht größer als Westeuropa.
Die Beschreibungen, wonach Atlantis „vor den Säulen des Herakles“ und „im Atlantischen Meer“ gelegen habe, beruhen auf dem anderen Geographieverständnis der damaligen Zeit. Gemeint ist, daß das Atlanterreich außerhalb des Mittelmeeres, im Gebiet des Atlantischen Meeres gelegen hat.
Ebenso verhält es sich mit der „Insel Atlantis“, die nach unseren Begriffen keine Insel war. Das Reich des Gadeiros, der „äußerste Anteil der Insel“ (Kritias 114b), lag im Südwesten der Iberischen Halbinsel am Atlantischen Meer. Das Atlanterreich der zehn Staaten erstreckte sich entlang der Küsten Westeuropas und umfasste neben dem Festland viele kleine und große Inseln. Auch der „königliche Staat“ selbst, dessen erster Herrscher Atlas war, lag auf dem Festland mit Küsten am Atlantischen Meer.
Vieles spricht für die Richtigkeit der Annahmen von Jürgen Spanuth, wonach dieser Staat im Bereich von Nord- und Ostsee gelegen hat und seine tief gelegenen Teile, insbesondere seine Hauptstadt Basileia, bei einer Flutkatastrophe in der Nordsee versunken sind. Ebenso scheint seine Annahme zutreffend, wonach der Zug der Atlanter mit der Großen Wanderung und dem Angriff der Nord- und Seevölker auf Ägypten im 13. Jahrhundert v. Chr. identisch war. Wir kommen zu keinem anderen Ergebnis.
Streitkräfte, Waffen und Kriegszüge, insbesondere Streitwagen und Reiterei, wie sie Platon für Atlantis, aber auch für Athen und Ägypten schildert, gab es erst seit der Bronzezeit. Auch darin hatte Spanuth recht. Die großartigen Darstellungen auf Zehntausenden von Felszeichnungen in Süd-Schweden (Bohuslän) und Süd-Norwegen (Östfold) beweisen, daß die am Atlantischen Meer wohnenden Völker Nordeuropas der Bronzezeit große Schiffe, Reiterei und Streitwagen kannten.
Anmerkungen:
1) Bei der von Joachim Rittstieg auf Yukatan im Izabal-See gefundenen Anlage könnte es sich m.E. um eine Kolonie der Atlanter handeln, erbaut nach dem Vorbild der Basileia. Joachim Rittstieg: Das ABC der MAYA, Dagmar Dreves Verlag Hamburg, 1999
Bei der von Werner Wickboldt auf einem Luftbild entdeckten Ringstruktur in der Nähe von Cadiz – in der Antike Gadira, Gadez – dürfte es sich eher um die Haupstadt des Gadeirischen Reiches handeln, eines Teilreiches von Atlantis, als um die Basileia.
2) Fo-sites oder For-sites und Po-sides oder Po-seidon bedeuten nach meiner Meinung „der Vor-sitzende / Vor-gesetzte / der Erste“; engl. first und deutsch Fürst dürften damit zusammenhängen.
3) Urahne lautet ahd. urano(kluges Etymologisches Wörterbuch). Das Wort setzt sich zusammen aus dem Präfix ur-, das „anfänglich, ursprünglich“ bedeutet, und aus ahd. ano = „Vorfahre“. Ein skandinavisches Wort für Vorfahren lautet im Plural aner. Die skandinavischen Sprachen kennen auch das Präfix ur- in gleicher Bedeutung, aber die Zusammensetzung mit aner scheint heute nicht mehr gebräuchlich. Dafür gibt es auf Seeland noch den Ortsnamen Uranegård, der als „Hof des Urahnen“ gedeutet wird.
4) Der Namensteil -eia bedeutet Insel. Die aus der Antike überlieferten Inselnamen Helix-oia, Basil-eia, Scher-ia sind nordischen Ursprungs. Bei –oia, -eia oder –ia handelt es sich um ein nordseegermanisches Wort, das „Insel“ (= im Wasser) bedeutet. Wir finden es in d. Ei-land, nl. ei-land oder e. is-land, ebenso wie in Inselnamen rund um die Nordsee bis Island und Nordnorwegen, z B. Guernsey, Jersey, Norderney, Alderney, Orkney, Anglesey, Grimsey. Das isländische eyja für Insel entspricht dem Grundwort in Basil-eia. Nordnorwegische Inselnamen lauten Ang-öya, Nes-öya, Mel-öya, Engel-öya, Hell-öya, Lyng-öya, Ing-öya, Ul-öya usw. Die dänische Form lautet -ø (ö), z.B Romø, Samsø.
5) Ein Ereignis, daß in der Bronzezeit vermutlich eine gewaltige Flutwelle in der Nordsee ausgelöst hat, war der Sturz des Phaéton in die Mündung des Bernsteinflusses Eridanos, die Eider. Dazu: Günter Bischoff, Phaéthons Sturz - eine frühgeschichtliche Katastrophe, in: DGG Nr.4/2000; Der Sturz des Phaéthon, in: EFODON-Synesis Nr.5/2003, in: MegaLithos , Nr. 1 bis 3/2004, im Internet unter: www.eichner-dresden.de/Phaethon.php.
Auch die sogenannte Storegga-Rutschung vor der Küste Mittelnorwegens, der größte bekannte Kontinentalabbruch , hat zu Beginn der Jungsteinzeit, vor 7200 Jahren, im Nordatlantik eine gewaltige Tsunami ausgelöst, die sich u.a. auf die Bildung der Nordsee ausgewirkt haben dürfte.
6) Zum Vergleich: Atlantis (der königliche Staat) 205 000 km², Frankreich 54 5000 km², Spanien 504 000 km², Schweden 450 000 km², Norwegen 385 000 km², Bundesrepublik Deutschland 357 000 km², Finnland 338 000 km², Italien 301 000 km², Vereinigtes Königreich 245 000 km²
7) Zum Vergleich: Irland: 60 Einw./km² bei 4,24 Mio Einw., Dänemark: 128,48 Einw./km² bei 5,5Mio Einw., Schweden: 20 Einw./km² bei 5,3 Mio Einw., Finnland: 15,6 Einw./km² bei 4,24 Mio Einw. , Norwegen: 12,2 Einw./km² bei 4,7 Mio Einw.
8) Unternehmen in dieser Größenordnung sind erst im Lauf des 2. Weltkrieges möglich geworden. Die Allierten haben bei der Invasion in der Normandie, 6. Juni 1944, am ersten Tag 170000 Mann mit Waffen und Gerät von See oder aus der Luft angelandet. Dazu waren 6000 Schiffe im Einsatz, in der ersten Welle 3100 Landungsfahrzeuge. Bis 12. Juni wurden insgesamt 326000 Soldaten mit 54000 Fahrzeugen und 104000 Tonnen Material gelandet.
9) Erst im 2. Weltkrieg waren die Alliierten ab Mitte 1943 in der Lage, von Afrika aus starke Landstreitkäfte in amphibischen Operationen auf Sizilien und in Süditalien, und ab Mitte 1944 von Korsika aus in Südfrankreich erfolgreich anzulanden.
Literaturauswahl:
Spanuth, Jürgen: Das enträtselte Atlantis, Stuttgart 1953; Atlantis, Tübingen 1965; Die Atlanter, Volk aus dem Bernsteinland, Tübingen 1976
Bischoff, Günter: Die große Ebene von Atlantis, in: Trojaburg Nr. 2/2006; Die Ebene und das Zentrum von Atlantis, in: EFODON Synesis Nr.2/2007; Althelgoland – ein vorgeschichtliches Zentrum, in:.Trojaburg Nr. 1/2007; Atlantis-Die Enträtselung im 20. Jahrhundert in: EFODON Synesis Nr. 3/2005; Der Sturz des Phaéthon (3 Teile) in: MegaLithos Nr. 1 – 3 /2004
Meier/Zschweigert: Die Hochkultur der Megalithzeit, Tübingen 1997
Rathjen, H.-W.: Atlantis war Westeuropa – die Einheit Westeuropas während der Bronzezeit, Göttert-Verlag Diepenau, 2004
Schmich, Otto Klaus: Atlantis – eine unendliche Geschichte?, in: Trojaburg 3/2006
Bessmertny, Alexander: Das Atlantisrätsel, Leipzig 1932
Hermann Zschweigert
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