Trojaburg
 
 

Die Figur des Jesus von Nazareth aus mystischer Perspektive

Zum besseren Verständnis gestatten Sie mir zunächst einen kleinen Exkurs in das Wesen der Mvstik:
Der im 14. Jahrhundert lehrende Meister Eckehart gilt als der bedeutendste Mystiker des MA.
So etwa steht es im Lexikon. Seine späten Thesen trügen deutlich pantheistische Züge – etwas wovor die Kirche heute noch, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Heidenangst hat: Vor einer (aus den Texten der Bibel abgeleiteten) Vorstellung eines alles durchdringenden göttlichen Prinzips - im Gegensatz zum „lieben Gott“ der Kirche. Das brachte ihn last auf den Scheiterhaufen, denn die auf ihr ideologisches Monopol als uneingeschränkte Macht bedachte Kirche duldete keinerlei Aufweichung ihrer starren Dogmen durch Neu-Deutung ..ihrer“ heiligen Schriften: darüber wachte streng die Gedankenpolizei der „heiligen Inquisition“. Unter Berufung auf Weisungen des Apostel Paulus u.a.  -  auf den noch einzugehen sein wird - wurde jede Abweichung von der Lehrmeinung konsequent verfolgt und wenn nötig ausgemerzt (Katarer. Templer u.v.a.).
Was den Meister Eckehart vor dem Scheiterhaufen rettete, war zum Einen sicherlich sein hohes Ansehen als bedeutender Kirchenlehrer und zum Anderen Widerruf und Abschwur seiner schlimmsten ..Irrtümer“. Nachzulesen zusammen mit verblüffenden und faszinierenden Auslegungen und Deutungen von Texten der Bibel in dem Buch: „Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate.“
Mit Meister Eckehart allerdings endet auch die mystische Tradition in der katholischen Kirche. Oder richtiger gesagt, der Begriff Mystik reduziert sich von hier an auf die fromme Verzückung einer Hildegard von Bingen und einiger Anderer. Das war ja auch harmloser und dokumentiert damit die totale Umdeutung eines aus der Sicht der etablierten Kirche gefährlich gewordenen Begriffs!
Wir bemühen noch einmal das Lexikon:
griech. mystikos = geheimnisvoll, zu mystes = der Eingeweihte
Was soll man nun unter Mystik verstehen?
Im “Totenbuch des Islam“. Untertitel: „Das Feuer und der Garten“. von einem gewissen Imam  Abd ar-Rahim bin Ahmad al-Qadi findet man eine anschauliche Einführung in den Begriff, wie ich meine.
Sinngemäß etwa so: „Für den Menschen unseres gegenwärtigen Zeitalters gebildeter Unwissenheit, der mit einer Batterie von Erklärungen zu allen Erscheinungen ausgerüstet ist sowie mit einem Satz festgelegter Antworten auf alles außerhalb dieses Bereiches, mit Antworten, die ihn versichern, daß alles andere als unwirklich, als Fantasie oder Aberglaube anzusehen sei - für diesen Menschen ist eine Annäherung [z.B.] an das ‚Thema des Lebens nach dem Tode schwierig, wenn nicht unmöglich. Unglücklicherweise ist das für den Muslim dieses Zeitalters genauso wahr wie für den Kafir (den Ungläubigen). Hat der Muslim dieses Zeitalters nämlich das genossen, was im technologischen Norden der Welt eine „Erziehung“ genannt wird, so hat er im Grunde die vollständige Kafir-Weltsicht aufgenommen, welche mit jener Erziehung identisch ist und welche seinen Islam (Gottergebenheit) bis aufs äußerste von seinem Imam (tugendhaftes Vorbild) abgelöst hat.
Imam ist der Glaube an die Einheit Gottes, an seine Bücher, Gesandten und „Engel“, an den
„Jüngsten Tag“ und an das Gericht.  Mit anderen Worten, wahrer Imam ist kein leerer emotionaler Nebel, wie derjenige, den die Christen ihren Anhängern zumuten, sondern vielmehr eine deutlich umrissene innere Geographie des Unsichtbaren. Für den Muslim ist
dieses Unsichtbare wirklich und die sogenannte feste (materielle)Welt unauflösbar mit diesem ungreifbaren Element verbunden. Der wahre Muslim ist verpflichtet, sein Verständnis des Daseins so lange zu entwickeln, bis seine innere Wirklichkeit eine größere Bedeutung, Tiefe und Reichweite annimmt als seine äußere Wirklichkeit. [Beispiel: nächtliches Kinderzimmer, Kind hat Angst im Dunkeln. Wenn aber Mutter da, ist es auch ohne Licht „hell“. Keine äußere Richtigkeit - aber innere Wahrheit. A.T.]
Für den Kafir ist die Welt der Materie, was sie scheint. (Dunya, ind.: Maya) Diese Scheinwelt entsteht, wenn wir die Strukturen der phänomenalen Welt mit Werten und Bedeutungen durchtränken, welche wir mit dem einfachen festen Stoff solange verbinden, bis wir schließlich jene materielle äußere Existenz nach „innen“, in unsere Vorstellung verlegt und sie zur Landschaft unserer inneren Welt gemacht haben. (Das geschieht in der Regel durch Erziehung).
Für den Muslim dagegen ist das Dasein von einer anderen, einer geistigen Dimension durchdrungen, welche ihn die materielle Welt eben vollkommen anders sehen läßt, solange er sich nicht durch die Welt des Scheins hypnotisieren läßt. Aus eben diesem Grunde füllt der Muslim, der per definitionem ein Mensch des Wissens ist, seine innere Wirklichkeit mit der Landschaft der geistigen Dimension (Akhird) aus, um nicht durch Anhaften an und Besessenheit von Dingen und Menschen gefangen genommen zu werden.“
Soweit das Totenbuch des Islam.

Eine geistige Geographie des Unsichtbaren also. Ein in Bildern und Figuren gedachter geistiger Kosmos, die Welt und ihre Erklärung in festgelegten Formen und Gleichnissen. Die Darstellung geistiger Mächte wie Gut und Böse, deren Konflikte und ihre Folgen für unser Dasein.
Ganz ähnlich, wie in unseren germanischen Sagen und Märchen , z.B. „Dornröschen“ oder „Siegfried“ als Drachentöter. Und viel später natürlich Goethes „Faust“.
Eine recht brauchbare Annäherung an das Thema liefert auch Rudolf Steiner in seiner Schrift „ Der Streit Michaels mit dem Drachen“ von 1923 (bezieht sich auf: Offenbarung d. Johannes 12.7) Zitat:
„Wer den Blick zurück in ältere Zeiten der menschlichen Seelenentwickelung wendet, dem muß bemerklich werden, wie im Weltanschauungsleben die Bilder sowohl der Natur wie des Geistes sich gewandelt haben. Man braucht gar nicht allzuweit zurückzuschauen. Noch im achtzehnten Jahrhundert war es so, daß man die Kräfte und Substanzen der Natur geist­ähnlicher, das Geistige mehr in Naturbildern gedacht hat als heute. Erst in der neuesten Zeit sind die Vorstellungen vom Geiste ganz abstrakt, die von der Natur so geworden, daß sie auf eine geistfremde Materie weisen, die für die menschliche Anschauung undurchdringlich ist. So fallen gegenwärtig Natur und Geist für das menschliche Auffassungsvermögen aus­einander; und keine Brücke scheint von dem einen zu dem andern zu führen.
Es ist aus diesem Grunde, daß grandiose Weltanschauungsbilder, die vor Zeiten eine große Bedeutung hatten, wenn der Mensch seine Lage im Weltganzen erfassen wollte, ganz in das Reich dessen eingezogen sind, was man als luftige Phantastik empfindet. Eine Phantastik, der sich der Mensch nur solange hingeben durfte, wie ihm keine wissenschaftliche Exaktheit dies verbot.
Ein solches Weltanschauungsbild ist der „Streit Michaels mit dem Drachen“. (...) Selbst­verständlich wurde dieser „Drache“ auch nicht sichtbar gedacht, sondern übersinnlich.“  Zitat Ende.

Wenn man also nun die Bücher der Bibel als Darstellungen tiefenpsychologischer Erkenntnis, vorgetragen in poetischen Metaphern, liest, erschließt sich die tiefgründige Weisheit hinter den vordergründigen Erzählungen.

Jesus
Das Christentum müßte eigentlich Paulinismus heißen, denn der vom Saulus zum Paulus gewendete ehemalige Christen-Jäger ist der tatsächliche Religionsbegründer. Und er widerspricht seinem Meister, dem er im wirklichen Leben nie begegnet ist, in wesentlichen Fragen. Paulus wirkte etwa 80 Jahre später. So konnte zunächst durch die paulinischen Verfälschungen, dann durch den römischen Staat und in der Folge durch die etablierte christliche Kirche aus einer sinnvollen Lehre eine z.T. bis ins Absurde pervertierte religiöse Ideologie werden.
Beispiele hierfür sind die Marienverehrung mit der unbefleckten Empfängnis durch den heiligen Geist, die leibliche Auferstehung Jesu und der Glaube, durch die Taufe ewiges Leben nach der Wiederauferstehung am jüngsten Tag zu erlangen, weil Jesus alle unsere Sünden durch seinen Tod auf sich genommen hat - alles wortwörtlich genommen!
Aus der geschichtlichen Überlieferung wissen wir, daß der Staat der Israeliten mehr oder weniger seit König David im Niedergang begriffen war. Seit Generationen litten die Menschen unter den wiederholten Unterwerfungen durch Assyrer, Babylonier, Perser und zuletzt durch die Römer.
Demzufolge traten immer wieder Propheten und Heilsverkünder auf, die Fremdherrschaft und Unterdrückung als Strafe Gottes interpretierten. Wie die seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts bei Qumran am Toten Meer gefundenen Schriftrollen vermuten lassen, gab es zu Zeiten der römischen Herrschaft eine Vielzahl religiöser Sekten mit zum Teil ähnlichen Programmen: Rückbesinnung auf das vermeintlich Wesentliche im Verhältnis zu Gott, wie es schon die alttestamentarischen Propheten gefordert hatten. ( Eine vielleicht vergleichbare Sekte im heutigen Judentum noch, sind z.B. die „ thoratreuen Juden“)
Rückbesinnung auf ein gottwohlgefälliges gesellschaftliches Miteinander als Voraussetzung und Garant für ein gottgesegnetes gesellschaftliches Dasein. Neben der strikten Einhaltung der noch verschärften zehn Gebote lautete die Hauptforderung: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Also Volksgemeinschaft. Und die Drohung: Ein Reicher kommt nicht in den Himmel! Will sagen: Geld macht nicht glücklich! Also Sozialismus.
Diese sozial-revolutionäre Auffassung aber stand in krassem Gegensatz zu derjenigen der etablierten Priesterschaft der einflußreichen und mächtigen Pharisäer, wie man sich denken kann, die es verstanden, durch listige und geschickte Auslegung und Deutung der religiösen Schriften ihr elitäres Schmarotzerdasein zu sichern.
In dem konsequenten, jungen Sozial-Revolutionär aus Nazareth in Galiläa sahen seine Anhänger bald den oft prophezeiten Messias, den von Gott gesandten Volkstribun, Erlöser aus völkischer Not. Die Pharisäer jedoch sahen in ihm den Aufrührer, der beseitigt werden mußte!
Nach seiner schmählichen Verhaftung und Demütigung (Geißelung) allerdings, wandten sich die meisten seiner Anhänger schlagartig von ihm ab und forderten seine Hinrichtung. Sie sahen sich getäuscht: Sie hatten schließlich einen starken Volkstribun, einen von Gott selbst gesandten neuen Führer erwartet. Dieser hier konnte es nicht sein!
Und hier beginnt die eigentliche Mystik:
Am dritten Tag, nach seiner Hinrichtung durch Kreuzigung, wodurch er alle Schuld der Welt auf sich genommen habe, sei er wieder auferstanden von den Toten. Noch eine Weile herumgegeistert, seinen verbliebenen Anhängern erschienen um ihnen Sendungsaufträge zu erteilen und dann auf einer Wolke gen Himmel aufgefahren. Wo er an der Seite seines Vaters thront, um am jüngsten, also letzten Tag der Welt, ein großes Gericht zu halten. Und nur diejenigen, die in seinem Namen getauft sind und an ihn glauben, kommen dann für alle Ewigkeit in den Himmel.
Diese unsterbliche Geschichte verdanken wir dem bereits erwähnten Apostel Paulus, Jude mit römischem „Paß“, der aus der Biographie eines kläglich Gescheiterten eine Erfolgs­geschichte machte und damit die mächtigste Sekte der Welt begründete: Das Christentum.
Mystisch verstanden, lag er damit völlig richtig: Gerade durch sein Scheitern, dem damit verbundenen, unschuldig erlittenen frühen Tod und das „Wunder seiner Wiederauferstehung“ wurde der Gekreuzigte unsterblich und damit zum Gott.
Neu war das keineswegs. Paulus und die frühen Kirchenväter bedienten sich dabei der seit Alters her bekannten und gebräuchlichen Formen- und Bildersprache der Mystik:
Von der göttlichen Zeugung und Jungfrauengeburt (bekannt schon bei den alten Griechen: Zeus und Leda), über den aufgehenden Stern, der die Wiederkunft Gottes (bei den Sumerern / Chaldäern die Wiederkunft der Götter bei Erscheinen des 12. Planeten „Nibiru“, die drei Weisen kamen dann auch praktischerweise gleich aus Chaldäa, dem Land der Sterngucker) und die Symbole für Dummheit und Gleichgültigkeit, die bei der Geburt des Gottessohnes zuschauen und nichts begreifen - Esel und Ochse, (der indische Gott Schiwa tanzt auf einer häufigen Darstellung den Tanz der Schöpfung auf dem Kopf eines [unverständigen] Affen), Wundertätigkeit, bis zum Tod am Kreuz und Auferstehung (Odin bei den Germanen und Seth bei den Ägyptern) und sogar der Verdrängung eines alten Gottes durch dessen eigenen Sohn (Zeus - Kronos, bei den Griechen), war im Prinzip alles schon mal da gewesen.
Neu war hingegen der Wechsel von einem gewalttätigen, eifersüchtigen und strafenden Gott (alter Bund = altes Testament) zu einem gütigen, barmherzigen und toleranten Gott (neuer Bund = neues Testament), dessen stärkste Waffe die Vergebung auch der schwersten Sünden war. In Verbindung mit den Verheißungen über den Tod hinaus erklärt sich daraus der unvergleichliche Siegeszug dieser religiösen Ideologie. Bis heute ist dieses Gottesbild in der christlichen Kirche allerdings „weiterentwickelt“ zur Beliebigkeit (z.B. Tolerierung der Homosexualität heute - in krassem Widerspruch zur Verdammung durch Paulus u.v.m.) und damit zu einem bedeutungs- und machtlosen Gott (Auschwitz verschlafen, zu schwach, schon tot usw., wie insbesondere von Vertretern der evangelischen Kirche geäußert).
Aus mystischer Sicht bleibt die Figur eines Erlösers allerdings interessant und aktuell. In der Figur des gekreuzigten Christus (griech.: Gesalbter Gottes), des von den unverständigen Menschen getöteten Gottesgesandten, verschmilzt das Göttliche mit seinem Geschöpf: Gott wird Mensch und Mensch wird Gott. Der Gottessohn stirbt als Mensch am Kreuz und der Menschensohn wird durch die Überwindung des Todes (Auferstehung) selbst zum Gott („ich und der Vater sind eins“). Der Sohn bekennt sich zum Vater und der Vater zum Sohn. Das Numinose nimmt (menschliche) Gestalt an, kommt also in seine eigene Schöpfung.

Wieso?
„Wohl habe ich gesagt, ihr seid Götter, Kinder des Allerhöchsten allzumal!“ Und: „Kein Weg führt zum Vater denn durch mich!“ Denn: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“
Die mystische Botschaft dieser poetischen Metaphern des Jesus Christus lautet also: Indem der Mensch sich als Produkt (Kind) der universellen schöpferischen Vernunft (Vater) erkennt, orientiert am Ideal des „erstgeborenen Sohnes (der schon beim Vater war, bevor die Welt erschaffen wurde“ Paulus), wird er einsichtig und teilhaftig dieser schöpferischen Vernunft, des göttlichen Willens, und damit selbst Eins mit diesem Willen.
(Die ägyptischen Pharaonen sahen sich übrigens auch als Gottessöhne, während ihrer Regentschaft als Gefäß für den göttlichen Geist.)
Noch einmal Meister Eckehart, aus der Predigt Qui audit me (wer mich hört): „ (...) Alles das, was der ewige Vater lehrt, das ist sein Sein und seine Natur und seine ganze Gottheit; das offenbart er uns allzumal in seinem eingeborenen Sohne und lehrt uns, dass wir derselbe Sohn seien. Der Mensch, der da so ausgegangen wäre, daß er der eingeborene Sohn wäre, dem wäre eigen, was dem eingeborenen Sohne eigen ist. Was Gott wirkt und was er lehrt, das wirkt und lehrt er alles in seinem eingeborenen Sohne. Gott wirkt alle seine Werke darum, daß wir der eingeborene Sohn seien. (...).“
Profan ausgedrückt: Das universelle schöpferische Prinzip verwirklicht sich selbst in seinem höchstentwickelten Geschöpf - dem Menschen. Der wird durch diese Erkenntnis wahrhaft erlöst - nämlich von seiner Rolle als vermeintliches Produkt eines vernunftlosen Zufalls {Montesqieu), und den aus diesem falschen Selbstverständnis resultierenden Mechanismen seiner verhängnisvollen Zivilisationssünden - und findet zu seiner göttlichen Wesenhaftigkeit und damit zu ewigem Leben (als Volk, bzw. als Menschheit).
So gesehen ist der Mann aus Nazareth - übrigens ganz unabhängig von der Tatsache seiner (gelegentlich bezweifelten) historischen Existenz, und vor allem in völligem Gegensatz zu den Dogmen der christlichen Kirchen - in der Tat ein echter Erlöser, zumindest aus mystischer Perspektive.

Dortmund, im Juli 2007
Axel Thieme

 

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